jessicagisso - 03 Leseprobe


Jugendliche sollten Spaß haben, Partys feiern und sich gehen lassen. Es gehörte zur Typbeschreibung einer jungen Erwachsenen, sich gehen zu lassen. Außer man hieß Lara Christiane Walls!

Mein Leben hatte immer schon aus Hindernissen und Steinen bestanden, die mir in den Weg gelegt wurden. Seit meiner Kindheit suchte ich nach meiner Persönlichkeit, aber die versteckte sich, egal, mit was ich sie lockte. Bisher hatte ich jeden Look ausprobiert, zu jeder Musik die Hüften geschwungen und bitchige bis tödliche Blicke verteilt. Unter keiner dieser Masken hatte ich mich wohlgefühlt, also machte ich kurzen Prozess und ließ das Biest von der Leine.

Der Leitfaden meiner Jugend wurde „Scheiß drauf“ und hielt auch heute noch an. Mit achtzehn sollte man sich doch endlich selbst gefunden haben, aber Pfeifendeckel!

Ich lebte bei einem ehemaligen Soldaten, hatte wenig Freunde, aber zig Bekannte. Das Wort Beziehung löste einen Würgereiz bei mir aus und ich schwor auf Karamellpudding. Mittlerweile nahm ich das Leben, wie es kam und versuchte das Beste daraus zu machen. Mein Leben bestand aus Partys, feiern und gehen lassen.

Naja, bis auf die Tatsache, dass ich eine Sukkubus war, die sich von Auren und Sex ernährte.

 

Ich konnte kaum klar denken, da mein, eigentlich immer funktionierendes, Gehirn alle Systeme heruntergefahren hatte, damit ich diese Nacht genießen konnte. Mir war es mittlerweile egal, ob ich die Schule verbockte, ob Chase seine Drohung wahr machte und mich aus dem Haus warf, oder ob ich meinen sonst so tadellosen Ruf ruinierte!

„Na meine Süße! Schon voll?“ Max hielt mir die Schnapsflasche vor die Nase, die ich annahm und mir einen großzügigen Schluck genehmigte. Der Joint in seiner Hand wurde in der Runde weitergereicht, aber ich lehnte dankend ab. Alkohol in Kombination mit Gras machten mich immer so sentimental. Ich atmete den süßlichen Geruch tief durch die Nase ein, um wenigstens auf diesem Wege meine Sinne zu betäuben.

Ich hatte mich auf diesen Abend mit Alkohol nur eingelassen, da Chase mich einfach nicht in Ruhe lassen konnte. Wie immer wollte er, dass ich brav die Hausaufgaben erledigte, mich um den Haushalt kümmerte und mich von der besten Seite zeigte. Aber eigentlich kannte mein Gefängniswärter mich überhaupt nicht! Ich war keine vierzehn mehr! Womit hatte ich solch eine Strafe verdient?

 

Leo hatte ihren Kopf auf meine Schulter gelehnt und lachte fröhlich. Diese Lachanfälle kannte ich nur viel zu gut von ihr, denn an solchen Abenden konnten wir allen Gefühlen freien Lauf lassen.

„Meine Eltern bringen mich um, wenn ich zugedröhnt nach Hause komme“, kicherte sie und gab mir dann einen Kuss auf die Wange. „Meine allerliebste, beste, treuste Freundin.“ Mein „Nein“ kam einfach nicht schnell genug über die Lippen. „Oh, komm schon, Lara, lass mich nicht hängen!“, bettelte sie los und ich rollte genervt mit den Augen.

„Von mir aus!“

Wenn wir wirklich am nächsten Tag zur Schule wollten, müssten wir uns langsam auf den Nachhauseweg machen. „Komm mit, Prinzessin.“ Ich half meiner Freundin auf die Beine, obwohl ich selbst kaum gerade stehen konnte. Das hatte etwas mit dem Alkohol zu tun, der in hoher Promillezahl durch mein Blut schoss.

„Welchen Wochentag haben wir?“ Max sah mich mit großen Augen an, als ich mit den Schultern zuckte.

„Donnerstag? Freitag?“ Ich zwinkerte zwei Mal und sah dann auf die Uhr an meinem Handgelenk. „Freitag“, bestätigte ich ihm, da es mittlerweile halb drei war. Als ich Leo von der Seite ansah, merkte ich, wie schrecklich meine beste Freundin aussah, denn wir hatten uns eine Flasche Tequila geteilt. „Wehe, du kotzt mir wieder das Zimmer voll!“, drohte ich ihr, denn Leos letzter Besuch hatte einen bleibenden Geruch in dem heiligen Teppich hinterlassen hatte.

Leo hob ihre Hand und formte ein Peacezeichen. „Ich schwöre!“ In fünf Minuten würde sie sich eh an nichts mehr erinnern können. Es war immer das Gleiche mit ihr!

 

Wir verließen den Park, in dem sich abends immer die Jugendlichen trafen, um zu trinken, zu reden und zu Skaten. Ich war nicht immer so abgefuckt und zugedröhnt, denn das passierte vielleicht ein bis zwei Mal im Monat und wenn, dann nur am Wochenende. Normalerweise war ich eine vernünftige Schülerin, die sich Gedanken um ihre Noten machte und sich am College bewarb.

Ich trank nur am Wochenende, wenn ich mit Freunden zusammen war und wegen Chase schlechte Laune hatte. Oder um mit meiner übernatürlichen Begabung zurechtzukommen. Sobald ich die wunderbaren Substanzen zu mir nahm, wurden die Stimmen still und ich sah keine imaginären Leute mehr.

Heute war Freitag, also wie kam es, dass ich betrunken war? Ganz einfach! Chase hatte mir einen neuen Mitbewohner vor die Nase gesetzt, den ich auf den Tod nicht ausstehen konnte.

03 Die Wächterin der Schatten

Vor 5 Stunden …

„Aleks, das ist Lara.“ Chase legte mir die Hand auf den Rücken, um mich sanft nach vorne zu schieben.

Ich musterte den Kerl vor mir. Sein Haar war kurz und dunkel, er war gut einen Kopf grösser als ich und hatte die Statur eines Athleten. Durch das eng anliegende T-Shirt konnte ich seine trainierten Arme sehen und einen kurzen Moment lang, einen wirklich sehr kurzen Moment, war er äußerst attraktiv in meinen Augen.

„Hallo Lara.“ Seine braunen Augen fixierten mich, als er die Reisetasche abstellte, um mir die Hand zu reichen.

Ich hätte nett sein können, aber Nett war die Schwester von Scheiße und genauso benahm ich mich. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, um keine Anstalten zu machen, ihm die Hand zu reichen. Genervt sah ich ihn abschätzend von oben bis unten an, da ich nichts Gutes an dem Kerl finden konnte. Seine Augen spiegelten Arroganz wieder und sein Lächeln war falsch.

„Fass meine Sachen an und du bist tot! Betrete mein Zimmer und du bist tot. Rede nicht mit mir, sonst bist du …“

„… tot“, beendete er den Satz mit einem Augenrollen. „Ich hab es verstanden!“ In seinem Tonfall hörte ich den leichten Klang von Sarkasmus, aber das war mir egal. Solange er mich in Ruhe ließ, würden wir gut miteinander auskommen!

Chase hatte sich seinen Stand in meinem Leben hart erkämpft, denn ich traute keinem Mann, der älter war als zwölf, über den Weg. Es hatte Monate gedauert, bis ich mich Chase geöffnet hatte und immer noch kannte er nicht alle Seiten von mir.

Ich machte auf dem Absatz des Flures kehrt und griff mir die Handtasche von der Kommode. „Ich bin weg.“ Ich drückte mich an Aleks vorbei und riss die Haustür auf, um endlich aus dem Gefängnis zu entfliehen.

„Sei vor zwölf zu Hause.“ Mein Gott, war der Mann ein Tyrann! Chase Walker war ein wirklicher Folterknecht.

Während ich das Haus verließ, hob ich die Hand und zeigte ihm den Mittelfinger über die Schulter hinweg. „Ich bin alt genug.“ Diese Geste galt Chase, aber auch Aleks!

03 Die Wächterin der Schatten

Das Ende vom Liedchen war: Ich schwankte stockbesoffen durch die Straße und hielt nun Leo das Haar aus dem Gesicht, als sie sich in den Rosenbüschen der alten Frau Meyer die Seele aus dem Leib kotzte.

Als sie endlich fertig war, wischte sie sich den Mund mit ihrem Jackenärmel ab und atmete die kalte Nachtluft ein. „Ich glaub, ich penn bei Jade.“

Das war die weiseste Entscheidung, die sie an dem Abend getroffen hatte, denn ich hätte meine Seele verwettet, dass meine Freundin mir ins Bett kotzen würde, und darauf hatte ich sicherlich keine Lust! Ich wollte einfach nur die Augen zumachen, da sich mittlerweile alles in meinem Kopf drehte. Ich kannte diesen Zustand bereits, aber jedes Mal verfluchte ich ihn, selbst wenn es die einzige Lösung war, um die bösen Geister zu vertreiben.

„Meinst du, irgendjemandem fällt auf, wenn wir morgen die Schule schwänzen?“ Leo hatte ziemlich lange für den Satz gebraucht und ich war erstaunt, dass sie ihn überhaupt so klar und deutlich formuliert hatte.

„Deine Cheerfreunde wären bestimmt nicht begeistert.“ Ich nahm ihre Hand und zog sie die Straße hinauf, an deren Ende wir uns trennen würden. Leo würde zur Kirche laufen und ich auf die andere Straßenseite, wo mich mein eigenes Schicksal erwartete.

„Ach ja“, stöhnte Leo auf, als wäre ihr gerade erst wieder eingefallen, dass sie der Kapitän der Cheerleader war. Hallo! Sie war der Cheercaptain und vergaß so etwas? Ich liebte meine Freundin mit all ihren Macken, aber wenn sie betrunken war, war Leo wirklich zu nichts zu gebrauchen. „Meinst du, wir kriegen Ärger?“

Typisch Leo! Zuerst die Lachanfälle, dann das Kotzen und zu guter Letzt ihre sentimentale Ader.

„Du nicht, aber mir wird Chase die Hölle heiß machen!“ Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur daran dachte, was Chase mir alles vorwerfen könnte.

Jeden Freitag trainierte mein Gefängniswärter mit mir im Keller, wie man jemanden vermöbeln konnte. Zudem sollte ich dreimal die Woche joggen und zu guter Letzt auch noch gute Noten nach Hause bringen. Mehr verlangte er nicht von mir und das war eigentlich leicht, außer man hatte einen Dickkopf wie ich!

Ich versuchte mich vor jedem Training zu drücken und verließ lieber das Haus, um mich mit meinen Freunden zu treffen. Die ersten drei Male gingen gut, bis Chase nach mir suchte und mich von der Skaterbahn zerrte. Nach einem gehörigen Anpfiff und einem Vortrag über Disziplin und den Selbsterhaltungstrieb, schwänzte ich keine Trainingsstunde mehr. Die Blöße würde ich mir kein zweites Mal geben.

 

„Ich muss hier lang.“ Leo bog nach rechts ab und ich hatte vor, sie bis zur Haustür zu bringen, denn alleine wäre die Betrunkene in irgendeiner Hecke gelandet.

Als Leo nach dem Ersatzschlüssel in ihrer Handtasche kramte, wurde die Tür bereits aufgerissen und eine wütende Jade stand mit bösem Gesicht an der Haustür. Leo sah beschämt hoch und versuchte ihre Schultern zu straffen. „Sorry.“

Jade schüttelte den Kopf und ließ ihre Nichte eintreten. Mir warf sie einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ihr zwei seid unglaublich.“

Es war nicht das erste Mal, dass Leo und ich in diesem Zustand nach Hause kamen, Chase und Jade hielten uns quasi jeden Monat eine neue Standpauke über Alkohol und Drogen, aber es half bei uns nichts mehr. Leo hatte ihre eigenen Probleme und ich würde meinen gleich gegenüberstehen.

„Gute Nacht.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln, aber Jade schüttelte nur den Kopf, als sie die Tür schloss. Dann fing das Geschrei in der Kirche an.

 

Jade war die Teamleiterin des FÜW-Teams, das für Spezialaufträge ausgebildet wurde. Doch in den vergangenen drei Monaten hatte sich einiges geändert. Seit Alessia ihre Freunde in Capital City angeschleppt hatte, ging alles drunter und drüber.

Viktor Cooper gab einer Handvoll Männer die Möglichkeit für ihn zu arbeiten, denn an Aufträgen mangelte es nie. Das FÜW übernahm alles, was außerhalb der Zuständigkeit der Polizei lag. Rettungsaktionen, Geiselbefreiungen, Mordermittlungen, Transport wichtiger Waren, bis hin zum Personenschutz.

Chase, Jade, Alessia und Matt hatten jeweils ein Team unter sich, allerdings interessierte ich mich nicht für die Details. Wenn ich Glück hatte, war Chase vielleicht bei einem Einsatz und wieder mal nicht daheim.

Als ich auf die andere Straßenseite lief, wurde mir klar, dass das Glück nicht auf meiner Seite stand, denn der silberne Audi stand in der Auffahrt und ich schluckte, als im Wohnzimmer immer noch Licht brannte.

„Bloß nicht durchdrehen“, sprach ich mir gut zu, als ich vor dem Haus stehen blieb und tief durchatmete. Was erwartete mich im schlimmsten Fall? Hausarrest? Nahrungsverbot? Alles schon durchgestanden! Das war alles kein Problem!

Als mein Blick zum Audi ging, sah ich zur Garage rüber, vor der das Auto von Chase geparkt war. Ich riss die Augen auf, als mir bewusst wurde, dass es doch eine Sache gab, mit der Chase mich bestrafen konnte. Mein Gefängniswärter würde mir nicht die Schlüssel zu dem heiligen schwarzen Fiat wegnehmen, oder? Wenn dies wirklich der Fall sein sollte, würde ich meine Sachen packen und zurück auf die Strasse ziehen. Alles wäre besser, als mit dem tyrannischen Soldaten unter einem Dach zu leben und keine Fluchtmöglichkeit zu haben.

„Plan B!“ Ich schlich um das Haus in den Garten.

Ein kurzer Blick durch die Glasscheibe in die Küche verriet, dass niemand mich sehen würde. Also begann ich mich an dem Rosengitter hochzuziehen, das zum Balkon im zweiten Stock führte. Ich würde durchs Badezimmerfenster einsteigen und ins Dachgeschoss schleichen, zumindest war das der Plan.

 

Ich kam keinen Meter weit!

 

„Hab sie gefunden.“ Der Verräter, Aleks, lehnte lässig an der Hausmauer und zwinkerte mir zu. Er hatte ein dämliches Grinsen auf dem Gesicht, weil er mich erwischt hatte, wie ich mich reinschleichen wollte.

Schwere Schritte halten von drinnen, als ich mich wieder an den Abstieg machte, und mit einem Rums flog die Terrassentür auf. Es dauerte keine Sekunde und Chase stand mit verschränkten Armen vor mir. Während die Terrassentür wieder zuschwang, hörte ich leise Stimmen von drinnen.

„Du hast Besuch?“, wollte ich interessiert wissen, um vom Thema abzulenken. Vielleicht vergaß er einfach, dass ich mich unerlaubt ins Haus schleichen wollte, um seiner seelischen Folter zu entfliehen.

„Du hast ein großes Problem!“ Chase packte mein Handgelenk und zog mich in den kleinen Garten, weg von Aleks, der sich wieder nach drinnen verzog. Als wir endlich drei Meter vom Haus entfernt waren, blieb Chase stehen und musterte mich von oben bis unten. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“

Ich zog die Augenbrauen hoch und versuchte zu lächeln. Es hatte zwar bei Jade nicht geklappt, aber vielleicht reichte es für Chase. „Sorry!“, versuchte ich mit einem Lächeln zu ergänzen.

Mir entging nicht, das Aleks und zwei weitere Typen am Fenster standen und uns beobachteten. Die Kerle schienen interessiert daran zu sein, wie ich gleich zusammengefaltet wurde. Hatten die Kerle nichts Besseres zu tun, als dabei zuzusehen, wie Chase gleich austicken würde?

„Sorry?“, blaffte Chase mich an. „Willst du mich verarschen?“ Als ich den Mund aufmachte, um etwas Sarkastisches zu entgegnen, kam er näher. Fast dachte ich, er wollte mich küssen, stattdessen roch er an meinem Atem. Ich kam mir so dämlich vor, weil ich wie eine läufige Hündin beschnuppert wurde, während drei Gaffer am Fenster saßen. „Hast du etwa gekifft?“ Hastig schüttelte ich den Kopf, aber da war es schon zu spät, denn ich wurde über den Rasen gezerrt und dann ins Haus.

 

Das helle Licht brannte in meinen Augen und instinktiv schloss ich die Lider, da ich genau wusste, was Chase tat. Er stand dicht vor mir und wartete darauf, dass ich die Augen wieder öffnete, um meine roten Pupillen zu sehen.

„Ist sie das?“, fragte jemand. Chase schleppte nie irgendwelche Fremden ins Haus, also mussten die Kerle zu der Gruppe gehören, die Alessia in die Stadt geholt hatte. Ich würde mich demnächst bei meiner Freundin herzlich bedanken, da sie Gaffer nach Capital City geholt hatte.

„Jep, das ist der Sonnenschein.“ Ich hätte Aleks den Hals für diesen blöden Kommentar umdrehen können, aber er würde bald lernen, dass er den Mund halten sollte, wenn Erwachsene sich unterhielten. Er würde keine Woche in dem Haus aushalten, wenn er meinen ersten Wutanfall mitbekäme. Wie jeder andere Typ würde er sich verpissen, da ich allen zu anstrengend war. Mein Vater! Mein Bruder! Meine Lehrer! Sie alle hielten nicht besonders viel von meinem Lebensstil und die meisten wetteten darauf, dass ich bald zu härteren Drogen überging oder an einer Überdosis starb.

„Wie lange willst du die Augen noch geschlossen lassen?“, zischte Chase neben meinem Ohr, da ich immer noch keine Anstalten machte, ihn anzusehen.

„Ich komm blind nach oben.“ Er sollte wissen, dass ich es schaffen würde, selbst im betrunkenen Zustand, denn ich hatte mich oft genug im Dunkeln durchs Haus geschlichen, wenn ich wieder mal spät dran war.

„Alkohol? Damit kann ich leben, wenn es nur am Wochenende ist, aber Drogen? Lara, ich dachte du seist klüger.“ Er würde sicherlich den Vater raushängen lassen und mir wieder eine Moralpredigt halten, denn es war ihm mittlerweile egal geworden, ob seine Freunde, meine Freunde oder sonst jemand auf der Welt dabei war.

„Du hast doch gesagt, ich sei zu klug für diese Welt. Ich dachte, ich helfe nur ein bisschen nach und kiff ein paar Gehirnzellen weg“, sagte ich sarkastisch, denn Chase kam mit meiner Besserwisserei nicht ganz so gut klar wie andere. Im Grunde genommen kam nur Leo mit meiner natürlichen Art klar und ich fragte mich gerade, ob Leo das Gleiche durchstehen musste oder schon im Bett lag und ihren Rausch ausschlief.

Chase packte mein Gesicht mit der Hand und drückte mir den Zeigefinger und den Daumen in die Backen. Als ich immer noch nicht die Augen öffnete, übte er Druck aus, sodass mein Kopf in den Nacken gedrückt wurde. Ich wusste genau, dass ich direkt unter der Lampe stand. „Mach die verdammten Augen auf“, raunzte er los.

„Lass sie doch. Sie ist noch ein halbes Kind.“ Wieder jemand Fremdes, der mich in Schutz nehmen wollte, dessen Schutz ich aber nicht brauchte.

Ich schlug Chase’ Hand zur Seite und öffnete die Augen, um ihm endlich das zu geben, was er wollte. Das Gesicht meines Gefängniswärters war ganz starr, bis auf ein Zucken über dem rechten Auge und das bedeutete nichts Gutes. Diese kleine Geste diente als Vorwarnung, dass er gleich platzen würde. „Für deinen Drogenkonsum sollte ich dich in den Knast stecken! Wer hat dir das Zeug gegeben?“ Chase würde Max umbringen, wenn ich ihn verpfeifen würde, aber wie jedes Mal hielt ich dicht.

„Sie hat doch nur gekifft.“

Ich drehte mich zu Aleks, der auf dem Sofa saß und seine Bierflasche ansetzte, um zu trinken. Die anderen Typen sahen genauso militärisch aus wie Chase und Aleks, nur in Augenfarbe und Größe unterschieden sie sich.

„Und wer seid ihr?“, wollte ich von den Muskelpaketen auf dem Sofa wissen.

„Robin.“

„Mario.“

Ja, eindeutig die Typen, die Alessia angeschleppt hatte!

Ich sah wieder zu Aleks, der ein Grinsen auf dem Gesicht hatte, aber das würde ihm bald vergehen. „Grins nicht so dämlich, sonst lernst du mich richtig kennen“, fuhr ich ihn an, aber er nahm nur einen weiteren Schluck vom Bier und beobachtete mich über den Flaschenrand hinweg. Ihn schien es wirklich zu amüsieren, dass ich vor ihm und seinen Freunden bloßgestellt wurde. Ja, seht euch nur das dumme Ding an, das nichts auf die Reihe kriegt!

„Ich an deiner Stelle würde nur mit einem Auge schlafen“, lachte Robin. „Die sieht aus, als würde sie heute Nacht in dein Zimmer kommen und dir ein Messer in den Rücken rammen.“

Aleks fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Mundwinkel und grinste. „Sie in mein Bett zu bekommen wäre nicht das Problem. Vielleicht steht sie auf die harten Sachen.“

Was? Wie bitte? Hatte ich mich grade verhört? „Du …“ Ich kam keinen Schritt, da Chase mich am Arm festhielt, denn er wusste genau, was ich vorhatte. Nicht umsonst hatte ich zwei Anzeigen wegen Körperverletzung am Hals und dabei ging es nur um Lappalien. Ich würde Aleks das hübsche Gesicht zerkratzen, wenn er mir noch mal blöd kommen würde.

„In meinem Haus gibt es weder Mord und vor allem keinen Sex“, erklärte Chase sachlich. „Schieb deine Probleme nicht auf andere. Du hast gekifft und nicht wir.“

Ich verschränkte wie ein trotziges Kind die Arme vor der Brust und legte den Kopf schräg, um Chase anzusehen. Dann grinste ich ihn einfach nur an. „Vielleicht solltest du auch mal einen Joint rauchen, um etwas lockerer zu werden?“

„Lara!“, brüllte er los, aber ich sprang zurück, damit er mir keine schmieren konnte. Zwar hatte Chase noch nie die Hand gegen mich erhoben, aber was nicht war, konnte noch werden.

„Benimm dich nicht wie mein Vater!“, keifte ich ihn an, als ich mich mit schnellen Schritten in den Flur begab, um in mein Zimmer zu gehen.

„Falls du es vergessen hast: Dein Vater hat dich im Stich gelassen und ich bin, im Gegensatz zu ihm, immer noch da“, erinnerte Chase mich schmerzhaft daran. Ja, mein Vater hatte mich zum Teufel geschickt, aber dies gab Chase nicht das Recht, seine Rolle zu ersetzen.

Ich sah meinen Gefängniswärter mit zusammengekniffenen Augen an und schüttelte dann den Kopf. „Er ist nur mein Erzeuger!“ Es hatte keinen Wert, mich erneut mit ihm wegen meiner Familie zu streiten. Er beharrte auf dem Standpunkt, dass ich meiner Familie vergeben musste, und ich wollte nie mehr mit ihnen reden. „Lass uns morgen weiterdiskutieren. Ich muss ins Bett, sonst bin ich morgen in der Schule nicht aufnahmefähig.“

Der Typ, der Mario hieß, zog die Augenbrauen hoch und sah mich schockiert an. „Du willst morgen in die Schule?“ Als ich nickte, begann Chase sich endlich zu beruhigen, denn das war seine schlimmste Sorge. Dass ich einfach alles schleifen ließ. Ich hatte ihm versprochen, mein Bestes zu geben, und an dieses Versprechen würde ich mich halten.

An der ersten Treppenstufe stoppte ich und drehte mich zurück zum Wohnzimmer, wo Chase sich gerade neben Mario setzte und über mich motze, dass ich eine verzogene Göre sei. Mein Seitenblick galt Aleks, der sich gerade über die Lippen leckte und mir zuzwinkerte.

 Ich legte ein strahlendes Lächeln auf und zeigte ihm den Mittelfinger. „Das kriegst du zurück!“ Dann stampfte ich hoch, da ich mich endlich aufs Ohr hauen wollte.

03 Die Wächterin der Schatten

Aleks musste schmunzeln, denn das war sowohl anziehend als auch abschreckend. Lara blieb auch nach drei Monaten ein Mysterium für ihn, das er zu lösen versuchte.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Mario, der an seiner Bierflasche nippte und dann jeden in der Runde ansah. Zuerst hatten sie vorgehabt, in irgendeinem Club feiern zu gehen. Aber als Chase bemerkt hatte, das Lara um eins immer noch nicht zu Hause war, blieben sie, um den Sonnenschein in Empfang zu nehmen.

Gerne hätte Aleks sie beschützt, als Chase wirklich grob mit ihr umging, aber Lara hasste ihn, also wieso sollte sie sich von jemandem wie ihm helfen lassen? Entweder Aleks löste ihr Geheimnis oder man würde ihn in eine Klapsmühle einweisen.

Als er Lara vor drei Monaten das erste Mal gesehen hatte, waren sie bei einem Kampf in einer infizierten Stadt gewesen. Lara und Chase hatten der Gruppe dabei geholfen, die Soldaten zu beseitigen.

 

Während Aleks in einen Kampf vertieft war, hörte er die Schreie eines Soldaten und als er sich umdrehte, leckte Lara sich gerade über die Lippen.

Während Robin an ihm zerrte, damit er weiterlief, hatte Aleks nur Augen für dieses unglaubliche Geschöpf. Nasses, hellbraunes Haar fiel ihr in kleinen Wellen über die Schulter und kräuselte sich durch die Luftfeuchtigkeit. Aleks hatte sich gefragt, ob sie von Natur aus Locken hatte und wie es sich anfühlen würde, eine Haarsträhne um seine Finger zu wickeln.

Lara stand in ihren schwarzen Hotpants und ihrer weißen Bluse mit dem Rücken zu ihm und wich einem anderen Soldaten aus. Zwei Schläge und der Soldat taumelte.

Als ihr Name erklang, drehte sie sich um und Aleks konnte ihr zauberhaftes Gesicht sehen. Das erste Mal in seinem Leben glaubte er an Engel, weil Lara so wunderschön aussah. Diese hellblauen Augen waren wie Eiskristalle im Winter und als Chase ihr etwas zurief, lächelte sie. Das war das erste und einzige Mal, dass Aleks sie in den drei Monaten lächeln sah, und er beobachtete sie genau.

 

Aleks machte es sich auf dem Sofa bequem und streckte die Füße aus. Während die anderen sich einen Film anschauen wollten, war er völlig in Gedanken, denn eigentlich sollte er Alessia dafür hassen, dass sie ihn aus der Kirche geworfen hatte. Die Hausherrin meinte, auf Dauer würde es zu eng werden und die Wahl fiel auf Aleks. Anfangs war er gar nicht begeistert gewesen, da er glaubte, in den Bunker ziehen zu müssen, aber als Chase ihm das Angebot machte, bei ihm und Lara einzuziehen, witterte Aleks seine Chance, ihr näherzukommen.

Bisher gab es noch keine Gelegenheit, mit ihr zu reden, aber wie hätte Aleks sie ansprechen sollen? Hi, ich bin der gutaussehende Typ von der anderen Straßenseite? Der Soldat hatte zwar Erfahrungen mit Frauen, aber Lara schien nicht auf solch plumpe Anmachen zu stehen.

Einmal hatte er versucht, sie anzusprechen, aber der Schuss ging nach hinten los, weil ihm jemand in die Quere kam.

 

Die Motorhaube von Laras Fiat stand offen und sie lehnte sich mit dem Oberkörper hinein. Der Blaumann war viel zu groß für ihren zierlichen Körper, aber das schien sie nicht zu interessieren. Sie war wohl keines dieser Mädchen, die sich viel um ihr Aussehen bemühten, aber irgendwie sah alles, was sie trug, gut an ihr aus. Nie zu viel Schminke, immer die richtige Kombination von Farben.

Aleks saß auf der Treppe der Kirche und wollte eigentlich Tyler bei den Hausaufgaben helfen, aber seine Augen waren starr auf die andere Straßenseite gerichtet.

„Sprich sie einfach an“, ermutigte Tyler seinen Beschützer. Aleks schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen, da er Lara einfach nur aus der Ferne ansehen wollte. „Biete ihr an, ihr bei dem Auto zu helfen.“

Das war endlich mal ein guter Plan, also stand Aleks auf, zog seine Kleidung zurecht und wollte grade losmarschieren, als ein Auto vor Laras Haus hielt. Ein junger Mann stieg aus, den Lara mit einem Kuss auf die Wange und einer innigen Umarmung begrüßte. Aleks hatte seine Chance vertan, denn der Fremde half Lara dabei, ihr Auto zu reparieren, während Aleks sich mit Mathe rumschlug.

 

Von Chase wusste er nun, dass das damals Matt gewesen war, dem eine Autowerkstatt gehörte. Aber eifersüchtig war Aleks immer noch. Dass sie ihm beim ersten Gespräch auch noch eine klare Ansage machte, ließ sie noch attraktiver werden. Ihre zügellose Art und Weise, ihn in den Wahnsinn treiben zu wollen. Welcher Mann konnte sich da nicht vorstellen, wie es wohl sein würde, wenn Lara wirklich nett zu einem war?

Chase hatte wirklich nicht untertrieben, als er sagte, dass Lara eine etwas schwierige Person sei. Er meinte, sie hätte eine schwere Kindheit gehabt, aber Aleks Fragen wollte er nicht beantworten, als er mehr über das Mädchen herausfinden wollte. Also musste er sich selbst darum kümmern, Laras Vergangenheit auf die Spur zu kommen.

Aleks setzte es sich zum Ziel, sich mit ihr anzufreunden, in der Hoffnung, dass Lara sehen würde, dass er eigentlich ein ganz netter Kerl war. Klar, er war nicht immer ehrlich zu Frauen gewesen und hatte in South Angels die eine oder andere Affäre verärgert, aber seit er Lara das erste Mal gesehen hatte, wusste er, warum es mit keiner anderen Frau geklappt hatte. Lara war genau die Frau, die ihn ausgleichen würde! Ob sie wollte oder nicht!

 

„Sie raucht, sie trinkt Alkohol und nimmt Drogen“, stellte Robin fest, als er sich zurücklehnte und die Augen schloss. „Vielleicht hat sie Probleme in der Schule?“

„Nein.“ Chase erhob sich und marschierte in die Küche, um einen weiteren Sixer Bier zu holen. „Sie ist eine gute Schülerin und ich habe nie davon gehört, dass sie gemobbt wird.“

Mario griff sich eine neue Bierflasche und öffnete den Schraubverschluss. „Falsche Freunde?“

Seine Freunde wollten nicht ernsthaft Laras Verhalten analysieren, um herauszufinden, warum sie Drogen nahm? Welcher Jugendliche hatte noch nie mit Drogen experimentiert oder sich einen Blackout ersoffen? Manchmal war Chase einfach zu verklemmt! Wenn man ihm in solchen Situationen zuhörte, konnte man meinen, dass er hundert Jahre alt war.

„Lass sie doch ihre Erfahrungen machen“, warf Aleks in die Runde und mit einem Mal wurde es still. Seine Freunde sahen ihn mit großen Augen an und ein jeder fragte sich, wieso ausgerechnet er auf Laras Seite stand.

Chase schüttelte den Kopf und sah ihn böse an. „Und in einem Jahr muss ich sie in eine Entzugsklinik einweisen. Das werde ich nicht zulassen! Ich habe versprochen, auf sie aufzupassen.“

Zum Glück war es Robin, der mehr Interesse an Laras Lebensgeschichte zeigte, denn hätte Aleks erneut Fragen gestellt, hätte vielleicht jemand Verdacht geschöpft. „Wo ist ihre Familie?“

Chase schloss die Augen, stützte sich mit den Ellenbogen auf seinen Knien ab und schüttelte den Kopf. „Ihre Mutter ist vor vier Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Sie war ein Sukkubus und hat sich genährt, als jemand sie erschoss. Es war mein erster Einsatz und ich habe gedacht, dass sie durchkommen würde, aber die Ärzte konnten nichts für sie machen. Laras Mutter erlag ihren Verletzung noch am Unfallort.“

Ein Sukkubus? Deshalb war Lara so hübsch und wirkte so anziehend auf Aleks, denn das kam durch ihre Gene. Bisher war der Soldat keinem dieser Dämonen begegnet, aber er kannte die Akten, die er Projekt Zero gelesen hatte. Wenn er sich nicht täuschte, war Lara nur zur Hälfte ein Sukkubus. Während sich ihre Mutter jeden Tag von der Energie der Menschen ernähren musste, konnte Lara diesen Hunger eine gute Woche, wenn nicht sogar zwei, unterdrücken. Inkuben, die männliche Version, und Sukkuben waren am Aussterben, da sie sich kaum fortpflanzen konnten, denn eigentlich töteten sie ihre Sexpartner nach dem Sex. Laras Mutter musste ihren Mann sehr geliebt haben, wenn sie ihn am Leben ließ.

„Und du hast ihr am Sterbebett versprochen, auf ihre Tochter aufzupassen?“, fragte Robin nach.

Chase nickte gequält, als würde er sich daran erinnern, wie die Frau starb. „Lara war zwölf und saß zu dem Zeitpunkt hinter einem Müllcontainer. Sie hatte alles mit angesehen. Ich war einer der ersten am Tatort und habe Lara zum Krankenwagen gebracht, bevor ich mich um ihre Mutter kümmerte. Ich musste der Frau versprechen, auf ihre Tochter aufzupassen.“

„Was ist mit ihrem Vater?“, wollte Aleks wissen, denn wenn Chase was getrunken hatte, war es leichter, etwas aus ihm herauszubekommen. Der Alkohol schien seine Zunge locker zu machen.

„Ein Immobilienmakler in der Stadt, der sich kaum um Lara gekümmert hat. Er hat sie rausgeschmissen, als sie dreizehn war, dann kam sie zu Projekt Zero, konnte aber fliehen. Sie lebte ein paar Monate auf der Straße, bis ich sie beim Klauen erwischt habe. Ich wusste sofort, wer sie war“, erklärte Chase mit trauriger Stimme.

Aleks konnte verstehen, warum sein bester Freund Lara unter seinen Schutz gestellt hatte. Denn wenn man mal ehrlich war, war Lara das hübscheste Wesen, das einem unter die Augen treten konnte. Ihre eisblauen Augen hatten ihm damals für einen kurzen Augenblick den Atem geraubt.

„Lasst uns zocken.“ Mario schien kein Interesse daran zu haben, mehr über Lara zu erfahren. Zu Aleks’ Leid, stimmten Chase und Robin dafür und diskutierten darüber, welches Spiel sie spielen wollten.

Lara! Ein Sukkubus! Ihre Freundschaft zu gewinnen würde wohl doch nicht so leicht werden, wie Aleks gedacht hatte. Ursprünglich hatte er sich in den Kopf gesetzt, sie dazu zu bringen, ihn zu mögen und sie dann um ein Date zu bitten. Natürlich würde er sich nur von der besten Seite zeigen, um ihr Herz zu erobern. Aleks hatte sich auf den ersten Blick in diese Schönheit verliebt und würde nicht locker lassen, bis er jedes kleinste Detail ihres Lebens und ihres Körpers kannte, denn wenn er etwas bei Projekt Zero gelernt hatte, dann, nicht aufzugeben.

 

„Aleks!“ Chase schnippte mit den Fingern vor dem Gesicht seines Freundes, weil er ihm keine Antwort gegeben hatte.

„Was?“

„Ich hab einen Einsatz. Kümmere dich bitte darum, dass Lara morgen früh zur Schule geht.“ Er verabschiedete sich von Mario und Robin mit einem Handschlag und klopfte Aleks dann auf den Rücken. „Ich verlass mich darauf, dass du ihr nichts durchgehen lässt, bis ich wieder zurück bin.“


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